Schelling, Hegel, Fichte (v.l.) und weitere Philosophen werden auf den Prüfstand gestellt.

Die Philosophie in die Reflexion ihres Erbes zwingen

Philosophie-Professorin Andrea Marlen Esser erhält Förderung für ein Reinhart-Koselleck-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Schelling, Hegel, Fichte (v.l.) und weitere Philosophen werden auf den Prüfstand gestellt.
Foto: Jan-Peter Kasper (Universität Jena)

Meldung vom: | Verfasser/in: Stephan Laudien
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Die antirassistischen Proteste der Black Lives Matter-Bewegung sowie die Reaktionen auf die rassistischen und antisemitischen Anschläge von Halle und Hanau, haben auch in der deutschsprachigen Philosophie eine Diskussion angestoßen. Es wurden Diskus­sionsreihen über die Rolle der eigenen Disziplin in der europäischen Gewaltgeschichte initiiert und Auseinandersetzungen in Tageszeitungen geführt, die fragten: War Kant ein Rassist? Ist Hegels Denken judenfeindlich? Waren die deutschen Idealisten durchweg Sexisten?

Ob diese Fragen tatsächlich geeignet sind, um sich des problematischen Erbes bewusst zu werden, das immer noch in unserer gesellschaftlichen und politischen Gegenwart wirksam ist, bezweifelt Prof. Dr. Andrea Esser, Leiterin des Arbeitsbereichs für praktische Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie erhielt den Fördermittelbescheid im Rahmen des Koselleck-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), für ein Projekt, das die Philosophie dazu anregen möchte, sich mit ihrem problematischen Erbe sowohl hinsichtlich der Philosophiegeschichtsschreibung als auch unter der Perspektive seiner Wirkung auf die und in der Gegenwart zu beschäftigen. Für die Dauer von fünf Jahren fördert die DFG das Projekt „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der Klassi­schen Deutschen Philosophie. (Selbst-)Kritische Philosophiegeschichte als Projekt einer „Public Philosophy“. Das Projekt startet in diesem Monat, die Fördersumme beträgt eine Million Euro. 

Auseinandersetzung mit traditionellen Denk- und Sprachmustern

Bei all den Philosophen, die wir näher betrachten wollen, gibt es de facto einen Anfangs­verdacht“, sagt Prof. Esser. Das Ganze sei jedoch nicht als ein Gerichtsprozess konzipiert, betont sie, denn es gehe nicht primär um die Personen und noch weniger darum, Lese- oder gar Denkverbote auszusprechen. Vielmehr möchten Andrea Esser und ihr Team die Verstri­ckungsgeschichte exemplarischer Texte in rassistische, sexistische und antisemitische Denk­muster rekonstruieren. Das betrifft sowohl die Konzeption der Texte als auch ihre Rezep­tion. So soll beispielsweise die Verwendung bestimmter Textpassagen und der Autorität ihrer Verfasser im Rahmen von Ideologien betrachtet werden, die, wie etwa die Ideologie des Natio­nalsozialismus, gezielt Rassismus und Antisemitismus verbreiten und verfestigen wollten. „Unser Ziel ist es, solche Denk- und Sprachmuster sichtbar zu machen und zu zei­gen, dass und wie sie immer noch wirken können“, sagt Prof. Esser. Deshalb müsse die kri­tische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie selbstverständlich auch eine kritische Beschäftigung mit den eigenen, heutigen Positionen einschließen. Denn dass ras­sistisches, antisemitisches und sexistisches Wissen bis in die Gegenwart präsent ist und es philosophische Debatten teils sogar reproduziert, wird trotz der aktuellen medialen Aufmerk­samkeit des Themas immer noch bagatellisiert.

Im Fokus des Projekts stehen Immanuel Kant und Philosophen nach Kant, wobei der lokale Bezug klar erkennbar werden soll: Entsprechend werden auch die Deutschen Idealisten J. G. Fichte, G. W. F. Hegel und F. W. J. Schelling, die alle eine Zeitlang in Jena gelehrt haben, behandelt; darüber hinaus auch: J. F. Fries, G. Frege, B. Bauch und W. Wundt. „Einige dieser Philosophen sind für das Selbstverständnis des Instituts für Philosophie in Jena bis heute prägend“, sagt Prof. Esser. An sie wird auch in der Stadt erinnert und sie sind für das Selbst­bild der Stadt Jena immer noch von Bedeutung.

Intensiver Austausch mit Akteuren und Aktivistinnen

Einen besonders innovativen Zuschnitt erhält die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus in der Philosophie durch ihre konsequente Öff­nung hin zu einer „Public Philosophy“. „Das Team sucht von Anfang an den intensiven Aus­tausch mit AktivistInnen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und weiteren Akteuren aus der Stadt. Denn der Ausgangspunkt der Diskussion liegt gerade in den öffentlichen Aushand­lungen über die Legitimierung rassistischer, antisemitischer und sexistischer Theorien und Praxen durch die Philosophie, aber eben auch in dem Potenzial der Philosophie, diese auf­zudecken und zu kritisieren“, sagt Prof. Esser. Es gehe nicht darum, vorrangig in Kategorien von „Richtig“ oder „Falsch“ zu denken oder danach zu fragen, ob bestimmte Personen fortan als „Rassist“ etc. bezeichnet werden müssen. Im intensiven Gespräch mit Öffentlichkeit, Institutionen sowie Aktivistinnen und Aktivisten will das Projekt vielmehr solche problemati­schen Polarisierungen überwinden und auf der Grundlage einer Konzeption politischer Urteils­kraft für gesellschaftliche Fragen der Philosophie ein Konzept von Public Philosophy entwickeln. Die dabei erarbeiteten „Werkzeuge“ für eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Fachgeschichte sollen idealiter Eingang finden in Lehrpläne und Unterrichtskon­zeptionen für Schule und Universität.

Das Team besteht gegenwärtig neben Prof. Esser aus Dr. Peggy H. Breitenstein, Dr. Hannah Peaceman, Dr. Sebastian Bandelin, Joël Ben-Yehoshua und Maximilian Huschke.

Kontakt:

Andrea Marlen Esser, Univ.-Prof. Dr.
Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie
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Arbeitsbereich Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie
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